Die Erzählung von der durch Gott befohlenen Beinahe-Opferung Isaaks führt die Theologie auf einen Höhepunkt und zugleich an die Grenze des Sagbaren. Statt die Irritationen der Erzählung durch religionsgeschichtliche, psychologische oder philosophische Überlegungen zu entschärfen, kommt alles darauf an, sie im Zusammenhang der Bibel zu verstehen:
In Gen 22 werden zwei große Themen des Pentateuch (Die Fünf Bücher Mose) miteinander verschmolzen und mit Abraham als Gründungsfigur in Verbindung gebracht:
• Das Thema der Gottesbegegnung im Kult, der sich im Tempelopfer verdichtet, nimmt den späteren Jerusalemer Tempelgottesdienst vorweg und erklärt den Sinn des Opfers: Der Widder steht für Isaak, und das heißt: für Israel, das sich ganz Gott verdankt und dies im Opfer anerkennt (Jerusalemprolepse).
• Das Thema der Gottesfurcht und des Hörens auf Gottes Stimme/der Befolgung des göttlichen
Willens nimmt den Bundesschluss am Sinai vorweg (Sinaiprolepse).
Gen 22 stellt die Bilder von Gott und vom gläubigen Menschen in Frage. Der Text erzählt von extremen Erfahrungen, von der Abgründigkeit des befehlenden Gottes und des hörenden und vertrauenden Menschen, die am Ende einer langen und dramatischen Beziehung stehen; er fasst die Erfahrungen unter dem Begriff „Versuchung“ oder „Erprobe/Prüfung“ zusammen.
Die Abrahamerzählung steht an der Seite ähnlich verstörender Texte wie z. B. dem Buch Ijob, den Klagepsalmen oder den Passionserzählungen der Evangelien.